Ein Bund der Oper

Konzeption zur Neugestaltung der Berliner Opernlandschaft 2003 von Andreas Rochholl

von Andreas Rochholl
veröffentlicht im Anhang des: “Oper in Berlin – Strukturkonzept” 20.02. 2003, Berliner Kultursenator Thomas Flierl
Warum noch eine neue Konzeption?

Die bisher vorliegenden Konzeptionen und Strukturmodelle zur Berliner Opernsituation sind zumeist nicht aus künstlerischem Reformwillen entstanden, sondern auf Grund des wachsenden Berliner Haushaltsnotstands. Ihre jeweiligen Inhalte sind hauptsächlich geprägt durch verwaltungstechnische Veränderungen, der Suche nach Einsparpotentialen und durch ein variiertes Beharren auf den Status Quo. Solch geartete Umstrukturierungen haben wenig Chancen, die notwendigen emotionalen und künstlerischen Energien für einen öffentlich wahrnehmbaren Neuanfang freizusetzen. Der bisher vorherrschende Eindruck ist, daß die Zukunft des hauptstädtischen Musiktheaters vor allem mit Degression in Zusammenhang steht. Für das gewünschte und notwendige Engagement des Bundes sollten zusätzliche Argumente gefunden werden, die weniger die Berliner Bedürftigkeit betonen, als viel mehr einen möglichen neuen Handlungsspielraum für alle im Bund vertretenen Länder aufzeigen.

Gemeinsam mit der Akademie der Künste und dem Rat für die Künste veranstaltete die Zeitgenössische Oper Berlin am 25. November 2002 mit vier Komponisten ein Podiumsgespräch zu Fragen der Berliner Opernsituation. Auf diesem Podium stellte Peter Ruzicka richtungsweisende Gedanken zu einem Idealmodell für eine großstädtische Opernlandschaft vor, die im Folgenden weiter ausgeführt und konkret angewandt werden.

Das hier vorliegende Konzept ist ein auf künstlerischer Notwendigkeit fußendes Reformpapier, das von dem politisch geplanten abgesenkten Finanzbudget ausgeht (Berliner Anteil von 90 Millionen Euro), Berlin trotzdem in eine innovative Opernstadt verwandeln kann und darüber hinaus Impulse für das gesamte Musiktheaterleben in der Bundesrepublik ermöglicht.

Die Betriebsform

Die drei bisherigen landeseigenen Opernbühnen werden in einer Stiftung zusammengefaßt und unter eine Intendanz und Geschäftsführung gestellt. Der Intendant soll als Moderator für die Vielfalt des Programmes und die sie ermöglichenden künstlerischen Persönlichkeiten sorgen. In dieser Stiftung ist der Bund mit 1/3, das Land Berlin mit 2/3 Stimm- und Finanzierungsanteilen vertreten. Aufgaben der Geschäftsführung sind: Koordination der Werkstätten, Verwaltung, Öffentlichkeitsarbeit, pädagogische Programme und Marketingarbeit. Jedes Haus bekommt ein eigenes künstlerisches Profil, das im Folgenden beschrieben wird. Die Orchester- und Ballettfragen werden weiter unten gesondert behandelt.

I. Das Haus für das große Repertoire
  1. Das Gebäude
    Bühne und Zuschauerraum der Deutschen Oper Berlin eignen sich in hervorragender Weise für das große Opernrepertoire.
  2. Grundsätzliche Gedanken bezogen auf die kulturelle Tradition
    Das als Bürgeroper gegründete und 1961 für West-Berlin neu erbaute Opernhaus soll in gesamtstädtischer Verantwortung auf höchstem Niveau eines A-Theaters arbeiten und die Bürger und Berlin-Besucher mit dem reichen kulturellen Erbe der Opernwelt vertraut machen. Ein Ziel soll der Aufbau eines leistungsstarken Sängerensembles sein. Damit in Zusammenhang soll auch die Pflege der Kapellmeistertradition stehen, d.h. ein kontinuierliches Zusammenarbeiten von Dirigenten, Sängern und Musikern während der gesamten Spielzeit hindurch erreicht werden.
  3. Programmatik
    Die Werke von Mozart bis zu den großformatigen zeitgenössischen Werken werden im Repertoiresystem mit festem Sängerensemble und den notwendigen Gastsolisten produziert.
    Pro Spielzeit werden 6 Premieren und 30 Werke im Repertoire angeboten.
  4. Personal
    Neben den Solisten sind der Chor und das technische Personal wie bisher fest engagiert.
II. Das Haus für Europa und die Bundesländer
  1. Das Gebäude
    Die Staatsoper unter den Linden wird in einem ersten Schritt vollständig denkmalgerecht saniert. Nach der notwendigen Schließzeit eröffnet das Haus mit neuer Programmatik.
  2. Grundsätzliche Gedanken bezogen auf die kulturelle Tradition
    a) Das Forum Fridericianum wurzelt in den Gedanken eines frühen europäischen Geistes, den es aus heutiger Erfahrung kulturpolitisch weiterzuentwickeln und konkret anzuwenden gilt. Das Interesse am kulturellen Dialog mit den europäischen Staaten kann gerade in der komplexen Kunstform Oper vielgestaltig belebt werden. Durch regelmäßige Einladungen von Ensembles aus europäischen Städten würde ein fachlicher und kultureller Austausch mit einer neuen Selbstverständlichkeit initiiert.
    b) Die historisch bedingte Tradition eines staatlichen Repräsentationsortes soll dem Selbstverständnis der jetzigen Berliner Republik entsprechend neu formuliert werden. Die Bundesländer werden eingeladen, ihre eigenen besonderen Leistungen hier zu präsentieren. Damit wird der Solidarcharakter des Bundes deutlich und der fachliche innerdeutsche Wettbewerb gefördert. Eine Einladung nach Berlin ist im Sinne der Nachhaltigkeit im Umgang mit Produktionsmitteln sinnvoll und ein Instrument zur geistigen Belebung des gesamten deutschen Musiktheaterbetriebes.
  3. Programmatik
    a) Das ganze Jahr über werden herausragende Opernproduktionen aus den Bundesländern und dem europäischen Ausland gezeigt. Es werden Aufführungen ausgewählt, die sich entweder durch die Stückwahl oder durch die Umsetzung besonders hervorgetan haben.
    b) Diese Produktionen werden blockweise jeweils zwei- oder dreimal gespielt.
    Die bestehenden Osterfestspiele werden mit wechselnder Programmatik weitergeführt.
    c) Im Sommer wird ein Festival der Barockoper angeboten, mit Eigenproduktion, Koproduktionen und Gastspielen.
    d) Zweimal im Jahr werden Werke im Stagionebetrieb neu produziert, die durch die Art der Realisierung oder die Stückwahl im Repertoirealltag nicht konsequent auf höchstem Qualitätsniveau umgesetzt werden könnten.
    e) Die unter b – d aufgeführten Aktivitäten sollten schwerpunktmäßig von der Staatskapelle realisiert werden. Darüber hinaus wäre ein spezifisches Konzertprogramm der Staatskapelle in der Staatsoper wünschenswert, das den besonderen Qualitäten dieses Klangkörpers einen geeigneten Rahmen gibt.
  4. Personalstruktur
    Das technische Personal ist fest engagiert. Die Künstler werden für die Eigenproduktionen einzeln engagiert.
III. Das Haus der Gegenwart
  1. Das Gebäude
    Der Innenraum der Komischen Oper wird umgebaut zu einem multifunktionalen Aufführungssaal, in dem mittlere und kleinere Stückformate erarbeitet werden können. Die Bestuhlung kann variiert werden bis zu max. 600 Sitzplätzen. Die zwei vorhandenen Ränge werden nach dem Prinzip der variablen Medienschalung verändert, wie es beispielhaft in dem Entwurf des “Zentrums für zeitgenössische Oper und Musik” (2001) von den Architekten Gewers Kühn + Kühn entwickelt wurde.
  2. Grundsätzliche Gedanken bezogen auf die kulturelle Tradition
    Die Berliner Theatertradition wurde vor allem geschrieben von wechselnden, nach den Zeitläufen sich orientierenden Theaterinstitutionen und den sie leitenden Künstlern. Ensembles erneuerten je nach künstlerischer und finanzieller Entwicklung Orte und Programmatik, Theater wurden umgebaut, das Metropoltheater an der Friedrichstraße beispielsweise von 1911 – 1930 alleine dreimal. Die Krolloper wurde für die vom preußischen Kulturministerium geplante Neueröffnung 1927 mit den zeitgemäßen technischen Equipment innen komplett neu ausgestattet und umgestaltet. Auch die Komische Oper ist 1947 und 1965 umgebaut und erweitert worden, um einer damals zeitgemäßen Theaterform Ausdrucksmöglichkeiten zu geben. Diesem Geist der Flexibilität und Neugier gilt es neue Möglichkeiten zu geben durch eine innovative Theaterinnenraumgestaltung und einer damit verbundene Dramaturgie.
  3. Programmatik
    Produktionen des zeitgenössischen Musiktheaters werden im Stagionebetrieb erarbeitet mit fünf Schwerpunkten:
    a) Beispielhafte Neuproduktionen von Werken des zeitgenössischen internationalen Musiktheaters.
    b) Labor für neue Werke, mit besonderem Schwerpunkt auf prozessorientiertes Arbeiten.
    c) Analog zum Haus für “Europa und die Bundesländer” sollen hier wesentliche Produktionen dieses Repertoires aus den anderen Bundesländern und dem internationalen Ausland eingeladen werden.
    d) Eine Vernetzung mit wissenschaftlich arbeitenden Instituten (Kognitionsforschung, Audiologie, Musikwissenschaft, etc.) soll das interdisziplinäre Arbeiten fördern.
    e) Ensembles für zeitgenössische Musik sollen hier Gelegenheit haben, regelmäßig mit flexiblen räumlichen Bedingungen und entsprechendem technischen Know-How ihr Repertoire zu pflegen und zu erweitern.
  4. Personalstruktur
    Die für die einzelnen Eigen-Produktionen benötigten Sänger, Darsteller und Musiker werden mit Werkverträgen engagiert. Das technische Team besteht zur Hälfte aus festen Mitarbeitern, die andere Hälfte wird produktionsbedingt mit Stückverträgen engagiert.
Das neue Kindermusiktheater

Ein Teil des oberen Foyers der Komischen Oper wird umgebaut zu einer Bühne für Kindermusiktheater, die regelmäßig bespielt werden kann und unabhängig vom Betrieb auf der Hauptbühne zu organisieren ist.

Das Musiktheater für Kinder erstellt ein eigenes Programm-Profil. Als Vorbild kann z.B. das Programm der sogenannten “Yakult”-Halle in der Kölner Oper oder der “Jungen Oper” in Stuttgart dienen. Der wesentliche Punkt bei dieser Planung ist, dass die Produktionen dieses Ortes nicht als Annex des großen Betriebes durchgeführt werden, mit zum Schluss noch freien Ressourcen, sondern als wichtiger und eigenständiger Grundbestandteil des Gesamten in die Planung mit aufgenommen werden.

Das neue Opernstudio und die Akademie

Es soll ein Konzept erarbeitet werden, durch das die Zusammenarbeit mit den verschiedenen regionalen und überregionalen Ausbildungsinstituten verbessert wird. Als geeignetes Instrument ist ein Opernstudio geplant, dessen Arbeit sich auf alle drei Häuser erstreckt. Auf diese Weise kann eine dem Ausbildungsstand angemessene Aufgabenvielfalt den jungen Künstlern angeboten werden. Das wäre ein wichtiges Beispiel für verantwortungsvolle Nachwuchspflege.

Des weiteren ist eine mit dem Opernstudio verbundene «Akademie Musiktheater» wünschenswert, in welcher Studierende unterschiedlicher Theater-Berufe (Theateringenieur(-in), Dramaturg(-in), Regisseur(-in), etc.) Gelegenheit haben, Erfahrungen zu sammeln und Projektideen zu erarbeiten. Die Ausschreibung für die Plätze in dieser Akademie würde bundesweit organisiert.

Die Orchester- und Ballettfrage

In diesen beiden Fragestellungen sind verschiedene Lösungen denkbar. Es muss überprüft werden, inwieweit die historisch gewachsene Koppelung der Orchester- und Ballettstrukturen an die Bühnen in zeitgemäße Formen zu überführen sind. Um eine klangliche Vielfalt zu erhalten, ist es notwendig, zwei eigenständige Orchester zu haben, die sich die unterschiedlichen Aufgaben des großen Repertoires an den Häusern aufteilen, damit eine gemeinsame Gesamtidentität erzeugt werden kann. In Haus der Gegenwart wird es zumeist sinnvoll sein, die in den verschiedenen Werken sehr unterschiedlich besetzten Musikerensembles jeweils einzeln zusammenzustellen oder mit Fachensembles zu kooperieren.

Die Umsetzung dieses Konzeptes würde auch neue Freiräume schaffen für die Frage der Ballettsituation. Die zahlreichen Argumente, die im Verlauf der Diskussion um das “Berlin-Ballett” vorgelegt wurden, könnten neu betrachtet werden und zu angemessenen Lösungen führen.

Vorteile eines “Bundes der Oper”
  1. Alle drei bisherigen Musiktheater-Standorte werden erhalten.
  2. Die Umsetzung dieses Konzeptes ermöglicht ein größeres Spektrum an Werken und Interpretationen, mehr Vielfalt der Theatersprachen, ein breiter gefächertes Publikum und mehr Akzeptanz seitens der Öffentlichkeit.
  3. Ein wesentliches Defizit der bisherigen Berliner Opernsituation wird aufgehoben: Es gibt keine angemessene Bühne für die Werke mittleren oder kleineren Formats. Mit dem «Haus der Gegenwart» wird der Entwicklung Rechnung getragen, daß heutige und zukünftige Entwicklungen des Musiktheaters vor allem in diesem Bereich stattfinden.
  4. Ein weiteres Defizit ist der fehlende Generationendialog. Mit der Etablierung eines eigenen Kindermusiktheaters und eines Opernstudios wird damit ein Neubeginn ermöglicht.
  5. Berlin tritt in einen aktiveren Kulturdialog mit den anderen Bundesländern und nimmt als Hauptstadt die Verantwortung wahr, Impulse zu setzen, Innovation zu fördern und das historische Erbe, womit nicht nur die Werke, sondern auch das deutsche Theatersystem gemeint ist, in besonderer Weise zu bewahren und beleben.
  6. Die Sommerbespielung durch ein neues, attraktives Festival entspricht dem schon lang gehegten Wunsch, eine große Lücke im Berliner Kulturkalender zu schließen.
  7. Die vom Bund in Berlin finanzierten Institutionen, die Berliner Festspiele und das Haus der Kulturen der Welt können in ihrer Programmatik unterstützt und Synergien genutzt werden.
  8. In historischer Nachfolge der preußischen Staatsoper und der legendären Krolloper wird vom Bund die (kultur-)politische Verantwortung im Spannungsfeld von Tradition und Innovation mit Bewusstheit wahrgenommen.
  9. Die Berliner Opernsituation würde einen deutlichen und nachvollziehbaren künstlerischen Neuanfang erleben und damit ein ermutigendes Signal geben, daß auch in “Spar-Zeiten” Gestaltungsfreiräume zu schaffen sind.